„Hilfen für junge Menschen mit komplexem psychosozialem Hilfebedarf im Verbund“ - dieser etwas kompliziert anmutende Name eines neuen Experten-Netzwerks im Bodenseekreis ist durchaus bezeichnend für das Problem, um das es dabei geht: „Wenn Jugendliche auf eine schiefe Bahn oder ins gesellschaftliche Abseits zu geraten drohen, gibt es dafür meist nicht nur einen Grund“, erklärt Landrat Lothar Wölfle. „Psychologische Probleme treten oft in eine Wechselwirkung mit sozialen Schwierigkeiten, so dass die Kinder, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen nicht mehr die innere Festigkeit und den Rückhalt haben, ihr Leben zu meistern“, so Wölfle weiter. Wenn diese Jugendlichen nicht rechtzeitig Hilfe bekämen, würde sich diese Spirale immer weiterdrehen, wissen auch die Mitarbeiter des Kreisjugendamts aus ihrer täglichen Arbeit: Schulabbrüche, Arbeitslosigkeit, Vereinsamung und Schlimmeres sind dann häufig die Folge.
In dem neuen Experten-Netzwerk, das auch mit den Buchstaben „JPV“ abgekürzt wird, sollen künftig Psychologen, Mediziner, Sozialpädagogen, Lehrer und weitere Fachleute eng zusammenarbeiten und sich im Bodenseekreis um Jugendliche mit solchen Problemen kümmern. „Mit dieser Lösung sind wir deutschlandweit die einzigen“, sagte der Landrat am Mittwoch (2. Februar 2011) auf der Gründungssitzung der neuen Arbeitsgemeinschaft im Bodenseekreis. Rund 50 Vertreter von sozialen und medizinischen Einrichtungen, Behörden sowie auch aus der Politik und Unternehmen der Region sind auf Einladung des Landratsamts zusammengekommen, um im Plenarsaal des Kreistages das neue Netzwerk aus der Taufe zu heben. „Diese breite Unterstützung aus vielen Bereichen der Gesellschaft zeigt, welche Bedeutung das Thema hat“, so Wölfle. Die allgemeine Entwicklung, dass psychische Erkrankungen zunehmen, sei auch in den Familien, Schulen und Unternehmen zu spüren. Dem müsse in der Jugendhilfe Rechnung getragen werden, so der Landratsamtschef.
Künftig soll sich unter Federführung des Kreisjugendamts einmal im Monat eine aus Fachleuten bestehende Hilfeplankonferenz über ganz konkrete und individuelle Hilfestellung für betroffene Jugendliche und deren Familien beraten. Das kann dann zum Beispiel so aussehen: „Bei einem Jugendlichen, der schon mehrere Schulwechsel hinter sich hat und bei dem wenig Hoffnung besteht, dass er allein bis zum einem Ausbildungsabschluss durchhält, arbeiten die Agentur für Arbeit, der behandelnde Kinder- und Jugendpsychiater, Bildungsträger und das Jugendamt gemeinsam daran, ihm solch einen Start ins eigenständige Leben zu ermöglichen“, erläutert Jugendamtsleiter Werner Feiri.
Dass es im Bodenseekreis nun den JPV gibt, sei ein großer Fortschritt: „Seit einigen Jahren verzeichnen wir einen verstärkten Anstieg an Beratungs- und Betreuungsanträgen von Familien, die mit psychischen Erkrankungen junger Menschen einher gingen. Etwa die Hälfte dieser Kinder und Jugendlichen befanden sich in fachärztlicher Behandlung“, erklärt Feiri. Die häufigsten Krankheitsbilder bei den Jugendlichen seien Autismus, Asperger Syndrom, gestörtes Sozialverhalten, Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sowie das Borderline-Syndrom. Auch gebe es oft eine Verbindung mit Depressionen, Suchterkrankungen oder Essstörungen. „In akuten Krisensituationen wurden einige sogar in eine stationäre psychiatrische Behandlung eingewiesen. Die behandelnden Ärzte verwiesen dann bald aber wieder auf eine Lösung im Rahmen der Jugendhilfe. Mit den bis vor kurzem vorhandenen Mitteln und Instrumenten konnten wir den Betroffenen aber keine adäquate Lösung anbieten“, verdeutlicht Werner Feiri die Notwendigkeit für den neu gegründeten Expertenverbund zugunsten der Jugendlichen.
Die Blaupause dafür lieferte der seit einigen Jahren bestehende Gemeindepsychiatrische Verbund im Bodenseekreis für Erwachsene, kurz GPV. Auch hier war und ist der Leitgedanke, dass das das Hilfsangebot am Bedarf des Patienten ausgerichtet wird und nicht umgekehrt. „Solch eine kompetenz- und fachübergreifende Zusammenarbeit erfordert viel Vertrauen unter den Beteiligten“, so Landrat Wölfle, „aber es funktioniert und am Ende profitieren alle davon, Patienten und Leistungsanbieter.“